Europa braucht 300.000 Soldaten, um sich im Ernstfall gegen Russland verteidigen zu können
Europas Sicherheit vor Putin ohne die USA
Mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump endet die transatlantische Garantie. Europa muss sich militärisch selbst behaupten. Um unabhängig und handlungsfähig zu sein, sollte es nun rasch konkrete Reformen umsetzen.
Europa muss seine Sicherheit und Verteidigung künftig eigenständig organisieren und gewährleisten. Dieser Satz mag noch ungewohnt klingen, doch er beschreibt eine neue strategische Realität, an die sich die Regierungen, Institutionen und Bürger Europas rasch gewöhnen müssen.
Mehr als 75 Jahre lang war die Sicherheit des Kontinents eine transatlantische Aufgabe. Die Vereinigten Staaten galten als Schutzmacht, von der sich keine Regierung in Europa trennen wollte. Doch mit dem Beginn der zweiten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump, drängen die USA ihre europäischen Verbündeten, eigenständig militärische Verantwortung zu übernehmen – ohne die gewohnte Rückendeckung aus Washington und der Nato. Besonders drastisch zeigt sich dieser Kurs in der Ukraine-Frage: Trump fordert, dass Europa Truppen entsendet, um einen möglichen Waffenstillstand abzusichern – auch wenn es von den Verhandlungen ausgeschlossen bleibt.
Für Europa beginnt eine sicherheitspolitische Ära, die schnelles und entschlossenes Handeln erfordert. Denn in der neuen politischen Realität der »Trump Time« werden Entscheidungen innerhalb von Tagen und Wochen getroffen.
Druck kommt auch aus Russland. Dass Präsident Wladimir Putin seine imperiale Agenda ungeachtet einer Vereinbarung mit den USA fortsetzen wird, gilt unter europäischen Geheimdiensten als ausgemacht. Bereits ein halbes Jahr nach dem Ende des Krieges gegen die Ukraine könnte er einen neuen Krieg gegen ein Nachbarland aufnehmen, in fünf Jahren könnte Russland einen groß angelegten Krieg auf dem europäischen Kontinent ohne Nato-Beteiligung beginnen.
Der Weg zu einer europäischen Sicherheitsunion
Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass europäische Regierungen über erhebliche Erhöhungen ihrer Verteidigungsausgaben diskutieren. Ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Europa hinkt bei der militärischen Aufrüstung weit hinterher. In den zwei Jahrzehnten vor Beginn des russischen Angriffskrieges stiegen die Verteidigungsausgaben der EU nur um 19,7 Prozent, während die USA ihren Etat im selben Zeitraum um 65,7 Prozent, Russland um 292 Prozent und China um 592 Prozent steigerten. Die Folgen sind bekannt: Europäische Munitionslager sind spärlich gefüllt, militärisches Gerät ist veraltet und bisweilen unbrauchbar. Den Europäern fehlen strategische Kernfähigkeiten - etwa beim Lufttransport, der Luftbetankung, der Aufklärungs- und Geheimdienstarbeit. Auch die militärische Forschung und Entwicklung ist unterfinanziert, was die langfristige Verteidigungsfähigkeit gefährdet.
Auch eine intensivere Unterstützung der Ukraine ist richtig. Die Trump-Administration setzt dem Land zu, indem sie das russische Narrativ der Ukraine als Kriegstreiberin übernimmt und eine Nato-Mitgliedschaft Kiews ausschließt. Doch nur aus einer Position der Stärke heraus kann die Ukraine in möglichen Verhandlungsrunden ihre Forderungen durchsetzen, insbesondere mit Blick auf die Wahrung des völkerrechtlichen Prinzips der territorialen Integrität.
Die in den vergangenen Tagen bekräftigten Schritte werden indes nur fruchten, wenn Europa seine gesamte Verteidigungsarchitektur überdenkt. Jedes Land agiert weitgehend unabhängig, mit eigenen Beschaffungssystemen und Streitkräften, die kaum interoperabel sind. Noch immer geben die Europäer über 80 Prozent ihrer Verteidigungsausgaben auf nationaler Ebene aus. Damit verzichten sie auf Skaleneffekte. Für ihr Geld bekommen sie weniger Fähigkeiten. Nationale Souveränitätsvorbehalte stehen einer Interoperabilität der Streitkräfte im Weg. Bis heute verhindern sie auch, dass die EU über ein militärisches Hauptquartier verfügt, das umfangreiche Militäroperationen leiten könnte.
Die Chance zur militärischen Integration und damit zur Schaffung interoperabler Streitkräfte, zur strategischen Beschaffung und zur Konsolidierung der rüstungsindustriellen Basis bietet die anstehende »Friedenssicherung«. Für diese Aufgabe benötigen die Europäer Streitkräfte, die mobil und interoperabel sind. Nicht zuletzt wegen der Länge der potentiellen Verteidigungslinie, werden die Kräfte rotieren müssen.
Zudem sollten diese Streitkräfte mit den bestmöglichen militärischen Fähigkeiten ausgestattet sein. Nur so wirken sie abschreckend auf Russland. Diese Ausrüstung sollten die Europäer gemeinsam entwickeln, kurzfristig auf dem Weltmarkt, mittelfristig in Europa. Der Schock, den die US-Administration ausgelöst hat, sollte als Anreiz verstanden werden, die notwenigen Integrationsschritte zu gehen und Europa über die EU zu einer echten Sicherheitsunion auszubauen.
300.000 Soldaten für Europa
Eine Analyse des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel und des Kiel Instituts für Weltwirtschaft schätzt die Kosten und Anforderungen, wenn sich Europa ohne Unterstützung der USA gegen Russland verteidigen muss. Demnach wären dafür erhebliche Verteidigungsinvestitionen von rund 250 Milliarden Euro jährlich notwendig, um russischer Militärgewalt wirksam entgegentreten zu können. Die Autoren gehen davon aus, dass Europa rund 50 zusätzliche Brigaden mit insgesamt 300.000 Soldaten aufstellen müsste. Hierfür seien mindestens 1.400 neue Kampfpanzer und 2.000 Schützenpanzer erforderlich, was die derzeitigen Bestände der gesamten deutschen, französischen, italienischen und britischen Landstreitkräfte übersteigt. Darüber hinaus müsste Europa jährlich rund 2.000 Langstreckendrohnen produzieren.
Auch wenn die Größenordnungen zunächst erheblich sind: Ökonomisch ist das relativ zur Wirtschaftskraft der EU überschaubar, die zusätzlichen Kosten liegen nur bei circa 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. Das ist weit weniger, als etwa zur Krisenbewältigung während der Covid-Pandemie mobilisiert werden musste“, sagt Prof. Guntram Wolff, Mitautor der Analyse und Senior-Fellow am Kiel Institut für Weltwirtschaft.

Herausforderung: militärische Koordination innerhalb der EU
Die Autoren heben hervor, dass Russland trotz hoher Verluste im Ukraine-Krieg seine militärischen Kapazitäten massiv gesteigert hat. Ende 2024 verzeichnete Russland rund 700.000 Soldaten in der Ukraine – deutlich mehr als bei der Invasion 2022. Zudem wurden im Jahr 2024 etwa 1.550 neue Panzer und 5.700 gepanzerte Fahrzeuge produziert, was gegenüber 2022 einer Steigerung von 220 Prozent bzw. 150 Prozent entspricht. Auch bei Drohnen und Langstreckenmunition habe Russland erhebliche Fortschritte gemacht.
„Russland könnte in den nächsten drei bisfünf Jahren die militärische Stärke haben, um die EU-Staaten anzugreifen. Wir müssen dies als reale Gefahr einstufen. Auch deshalb ist es im größten europäischen Interesse, einen Sieg Russlands in der Ukraine zu verhindern, der die Aggression Russlands nochmals beflügeln dürfte“, so Wolff.
Eine der größten Herausforderungen bleibt laut Analyse jedoch die militärische Koordination innerhalb Europas. Während die US-Streitkräfte als einheitlich geführte Korps operieren, sind die europäischen Armeen auf 28 nationale Streitkräfte verteilt.
Wolff: „Wenn jedes Land sich alleine verteidigen möchte, dann verursacht das höhere Kosten. Selbstversicherung ist teurer als kollektive Sicherheit. Eine engere Koordination und gemeinsame Beschaffung sind daher essenziell.“
Bis zu 60 Mrd. Euro zusätzliche Militärausgaben für Deutschland
Die Autoren schlagen eine Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben von derzeit 2 Prozent auf 3,5 bis 4 Prozent des BIP jährlich vor. Dies würde bedeuten, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam mindestens 250 Milliarden Euro jährlich zusätzlich aufbringen müssten.
Die Hälfte davon könnte durch gemeinsame europäische Schulden finanziert werden und in eine gemeinsame Beschaffung fließen, die gegenüber der nationalen Beschaffung Kostenvorteile bietet. Die andere Hälfte könnte durch die Mitgliedsländer über ihre nationalen Verteidigungsausgaben finanziert werden.
Für Deutschland als größte europäische Volkswirtschaft würde dies eine Erhöhung der nationalen Verteidigungsausgaben von 80 auf bis zu 140 Milliarden Euro bedeuten, das entspräche dann 3,5 Prozent des BIP. Die Autoren sehen jedoch auch wirtschaftliche Vorteile: „Eine schuldenfinanzierte Erhöhung der Verteidigungsausgaben könnte aber auch als Konjunkturimpuls wirken, wenn sie innerhalb der EU ausgegeben werden, insbesondere in Zeiten rückläufiger externer Nachfrage durch US-Zölle und Handelskonflikte“, so Wolff.

Mehr Zeit für konkretes Handeln
Russland, China, deutsch-amerikanische Freundschaft: Die neue Regierung wird sich einigen Herausforderungen stellen müssen. Prof. Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Der sicherheitspolitische Experte erklärt die außen- und sicherheitspolitische Lage nach der Bundestagswahl.
Deutschland hat gewählt. Nun muss eine neue Regierung gebildet werden. Spätestens am 25. März 2025 muss der neue Bundestag zum ersten Mal zusammentreten. Und auch sicherheitspolitisch ist der Zeitdruck schon jetzt hoch. Außen- und sicherheitspolitisch stehe die neue Regierungskoalition nämlich vor fundamentalen Herausforderungen, warnt Masala. „Wir haben transatlantische Beziehungen, die sich jetzt unter dieser Trump-Administration möglicherweise nachhaltig verändern.
Wir haben einen Gegner Russland, der die europäische Sicherheitsordnung militärisch bedroht, und wir haben dann, weit weg in Asien, mit China einen Akteur, der die internationale Ordnung auf den Kopf stellen will.“ zudem betont er, dass man angesichts des NATONorth Atlantic Treaty Organization-Gipfels im Juni und des EUEuropäische Union-Gipfels im Mai keine Zeit für lange Koalitionsverhandlungen habe. „Wir brauchen sehr schnell eine handlungsfähige Regierung. Wir können nicht bis zum Frühsommer warten, bis wir eine solche haben“, so der Sicherheitsexperte.
Ein wichtiges Instrument, um Deutschland außen- und sicherheitspolitisch positionieren zu können, ist für Masala dabei die Bundeswehr. Diese sei aber unterfinanziert und personell nicht gut ausgestattet. Aber eine nachhaltige Finanzierung der Streitkräfte koste viel Geld und auch die Unterstützung der Ukraine sei teuer. Eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts sei nötig, reiche dafür allein aber nicht aus. Masala nennt unter anderem die Einführung eines zusätzlichen Solidaritätszuschlags für Verteidigung und ein Aussetzen der Schuldenbremse als Lösungsansätze. „Ich glaube, wir müssen alle Instrumente nutzen, um diesen enormen Finanzbedarf, der auf uns zukommt, auch decken zu können.“
Dazu müsse sich auch die Einstellung der Bevölkerung zu sicherheits- und außenpolitischen Themen ändern, sagt Masala. Die politische Führung müsse den Deutschen erklären, warum es wichtig sei, sich außen- und sicherheitspolitisch neu auf- und einzustellen sowie die Bundeswehr nachhaltig zu finanzieren und auszustatten. Der Sicherheitsexperte betont: „Wenn die Bevölkerung nicht mitgeht, dann wird es schwierig.“
Es ist an der Zeit auszuziehen
Nicht nur Deutschland, sondern auch Europa müsse schnell handeln, macht der Professor für Internationale Politik deutlich. Angesichts der russischen Bedrohung und des Drucks der Trump-Administration habe man nicht viel Zeit und es sei notwendig, „vom Reden ins Handeln [zu] kommen.“ Man müsse jetzt konkret Fähigkeiten beschaffen, die die möglicherweise wegfallenden Fähigkeiten der Amerikaner ersetzen könnten. Masala wählt einen Vergleich:
„Europa ist so ein bisschen wie der 49-jährige junge Mann oder die junge Frau, die noch immer bei den Eltern wohnt, aber sehr gut verdient, aber sozusagen die Eltern noch die Wäsche waschen lässt und kochen lässt. Das heißt, es ist an der Zeit, auszuziehen, ohne den Kontakt zu den Eltern abzubrechen.“
Es sei nun nötig, eine breite Koalition europäischer Staaten zu bilden, sagt Masala. Diese müsse dann einen konkreten Zeitplan zum Aufbau von Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung erarbeiten. Auch müsse dabei eine Anschlussfähigkeit für Nicht-EUEuropäische Union-Staaten wie Großbritannien oder Türkei mitgedacht werden, ergänzt der Experte. „Also weniger Zeit für große Konzepte, mehr Zeit für konkretes Handeln.“
Masala blickt dennoch optimistisch in die Zukunft, denn die europäischen Staaten seien sich der Dringlichkeit der derzeitigen Situation wohl bewusst. Es gebe viel Bewegung in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Er hoffe, dass nun „der Selbstbehauptungswille Europas erwacht“.
Quellen & Experten: Forschunsinstitut Bruegel, Bundeswehr München, „Nachgefragt“, SWP, Kiel Institut für Weltwirtschaft, Dr. phil Ronja Kempin, Prof. Gntram Wolff, Prof Carlo Masala.