Die ungelesenen Stasi-Akten
Viele entschieden sich, ihre Stasiakte nicht einzusehen – darunter prominente Persönlichkeiten wie Nobelpreisträger Günter Grass, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt oder Gewerkschaftsführer Claus Weselsky. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären? Und was bedeuten diese Einsichten für den gesellschaftlichen Umgang mit Erinnerung und Aufklärung in post-diktatorischen Gesellschaften?
Abgehört, bespitzelt und verfolgt: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) setzte auf Kontrolle ihrer Bürger*innen. In unzähligen Akten berichteten Mitarbeitende des Ministeriums für Staatssicherheit – auch Stasi genannt – detailliert über deren Leben und auch über das von ausländischen Staatsangehörigen.
Nach dem Zusammenbruch der DDR wurden die Stasiakten beschlagnahmt und können in eigens gegründeten Stasi-Unterlagenarchiven auf Antrag eingesehen werden. In den drei Jahrzehnten seit der Aktenöffnung im Jahr 1991 haben über zwei Millionen Bürger*innen von diesem Recht Gebrauch gemacht. Eine Mehrheit hat jedoch vermutlich die Möglichkeit nicht wahrgenommen, ihre Akten zu lesen. Würden alle DDR-Bürger*innen, die glauben, dass über sie eine Akte existiere, einen Antrag auf Einsichtnahme stellen, würde sich dies auf über fünf Millionen Anträge belaufen, schätzen die Forscher*innen.
Warum also will eine Mehrheit der Bürger*innen gar nicht wissen, ob und durch wen sie bespitzelt oder verraten wurden? „Wir haben es hier mit dem psychologischen Phänomen der deliberate ignorance, dem sogenannten gewollten Nichtwissen zu tun“, sagt Ralph Hertwig, Direktor am Forschungsbereich Adaptive Rationalität. „Es gibt Lebensumstände, in denen Menschen bewusst auf potenziell wichtige Informationen verzichten. Die Motive sind häufig keineswegs eine Vogel-Strauß-Politik, sondern Überlegungen, die von der Regulation antizipierter negativer Emotionen bis hin zu Fairnesserwägungen reichen können.“
Um zu untersuchen, welche Motive für die Menschen relevant sind, kombinierten Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Technischen Universität Dresden in einer Studie Befragungsmethoden aus der Psychologie mit Zeitzeug*innen-Interviews.
Über 160 Personen folgten Aufrufen in Radio- und Zeitungsinterviews und waren bereit, über ihre Entscheidung, ihre Stasiakte nicht einsehen zu wollen, Auskunft zu geben. Davon nahmen 134 Personen an einer Umfrage teil. Teilstandardisierte Interviews mit 22 weiteren Personen vervollständigten das Bild. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen ein breites Spektrum an Motiven für das bewusste Nichtwissen: Das am häufigsten genannte Motiv (78,4 %) war, dass die Informationen in den Akten nicht mehr für das heutige Leben von Bedeutung seien. Bedenken, dass Kolleg*innen (58,2 %), Freunde oder Familienangehörige (54,5 %) als Informanten gearbeitet hätten, und die Sorge davor anderen noch vertrauen zu können (44 %) waren weitere häufig genannte Motive. Die Bürokratie, die mit der Beantragung von Akteneinsicht verbunden ist, wurde von 40 Prozent der Befragten angeführt. Andere bezweifelten den Nutzen und die Glaubwürdigkeit der in den Akten enthaltenen Informationen: Fast zwei von fünf Befragten (38,8 %) glaubten, sie wüssten bereits, was in ihrer Akte stehe und fast ein Drittel (29,1 %) bezweifelte die Richtigkeit der enthaltenen Informationen.
Politische Überzeugungen und Unzufriedenheit über den öffentlichen Umgang mit der DDR-Geschichte trugen ebenfalls dazu bei, dass die Befragten ihre Akte nicht einsehen wollten: Rund 38 Prozent hielten es für falsch, die DDR nur unter dem Aspekt der Stasi zu betrachten. 22 Prozent haben ihre Akte nicht gelesen, weil sie sich als überzeugte DDR-Bürger identifizierten. Für einige war die Entscheidung, ihre Akte nicht zu lesen, von den Erfahrungen und dem Verhalten anderer beeinflusst: Rund 22 Prozent verzichteten auf die Einsicht in ihre Akte, weil sie Personen kannten, die ihre Entscheidung bereuten und rund 15 Prozent, weil die meisten Menschen in ihrem Umfeld ihre Akte auch nicht gelesen hatten.
In den halbstandardisierten Interviews wurde deutlich, dass die Teilnehmenden die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen und Harmonie im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis über andere Gründe stellten. Gleichzeitig leben wir in einer öffentlichen Erinnerungskultur, für die Aufklärung und Wissen als notwendig für die Gestaltung einer besseren Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft erachtet wird.
„Während individuelle Erinnerung und öffentliche Erinnerungskultur sich gegenseitig beeinflussen, können die zugrunde liegenden Motive offensichtlich auseinandergehen. Diese Kongruenz oder Diskrepanz ist ein wichtiger Faktor des gesellschaftlichen Wandels“, sagt Dagmar Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Dresden. Gemeinsam mit Ralph Hertwig leitete sie das Forschungsprojekt „Nicht-Einsichtnahme in Stasiakten: Gewolltes Nicht-Wissen und Transformation“. Wenig sei über gewolltes Nichtwissen auf individueller Ebene in Zeiten gesellschaftlicher Transformation bekannt.
In Deutschland gebe es zwar umfangreiche Forschungen beispielsweise über die Verleugnung der Unterstützung oder aktiven Mitschuld an den Verbrechen des NS-Regimes, individuelle Motive dieser Verleugnung und vor allem ihr Zusammenhang mit kollektiven Erinnerungskulturen sind bisher kaum erforscht. Die Öffnung der Stasi-Unterlagen bot so die einmalige Gelegenheit, mehr über die Entscheidungen von Bürger*innen einer zusammengebrochenen Diktatur zu erfahren, sich nicht mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.