Wo steht Deutschlands Mitte?
STUDIE: Für komplexe Fragen der Zeit werden vermehrt einfache und autoritäre Lösungen gefordert
stellt eine Forschungsgruppe unter Leitung von Prof. Dr. Andreas Zick vom Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu rechtsextremen, menschenfeindlichen und demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland vor.
Auf Basis einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage werden in der Reihe der Mitte-Studien die Verbreitung, Entwicklung und Zusammenhänge sozialer und politischer Einstellungen analysiert, um Auskunft über aktuelle und langfristige Herausforderungen der Demokratie und Gesellschaft zu geben.
Die jüngsten Ergebnisse zeigen:
Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Krisen und Konflikte distanziert sich ein deutlich größerer Anteil der Mitte der Gesellschaft von demokratischen Werten, Normen und Grundprinzipien als in den Erhebungen der Vorjahre. Für komplexe Fragen der Zeit werden vermehrt einfache und autoritäre Lösungen gefordert. Die Zunahme demokratiegefährdender bis zu demokratiefeindlichen Einstellungen spiegelt sich insbesondere in der Herabwürdigung von Minderheiten, der Anfälligkeit für Populismus sowie einem generellen Verschwörungsglauben wider, ebenso wie in der Hinwendung zu neurechten, nationalistischen, rechtsextremen und gewaltbilligenden Positionen. Zudem verorten sich mehr Befragte als zuvor selbst politisch rechts der Mitte. Dabei steckt die Demokratie angesichts des Erstarkens antidemokratischer Kräfte, der hohen Anzahl an Nicht-Wähler/innen, des Misstrauens in staatliche Institutionen, in Medien und die Politik, aber auch aufgrund eines Mangels an politischer Selbstwirksamkeit und Partizipation selbst in der Krise. Die Beiträge der Mitte-Studie 2022/23 beleuchten unterschiedliche Facetten, Kontexte und Hintergründe demokratiegefährdender Einstellungen. Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und ausführlich in dem Buch zur Studie dargestellt, welches im Dietz-Verlag Bonn erschien.
Rechtsextreme Einstellungen sind stark angestiegen und weiter in die Mitte gerückt. Jede zwölfte Person in Deutschland teilt ein rechtsextremes Weltbild. Mit 8 % ist der Anteil von Befragten der Mitte-Studie 2022/23 mit klar rechtsextremer Orientierung gegenüber dem Niveau von knapp 2 bis 3 % in den Vorjahren erheblich angestiegen. Dabei befürworten mittlerweile über 6 % eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland (2014-2021: 2-4 %). Über 16 % behaupten eine nationale Überlegenheit Deutschlands, fordern »endlich wieder« Mut zu einem starken Nationalgefühl und eine Politik, deren oberstes Ziel es sein sollte, dem Land die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zustehe (2014-2021: 9-13 %). Zudem vertreten die Befragten mit fast 6 % vermehrt sozialdarwinistische Ansichten und stimmen zum Beispiel der Aussage zu »Es gibt wertvolles und unwertes Leben.« (2014-2021: 2-3 %). Auch der Graubereich zwischen Ablehnung und Zustimmung zu den rechtsextremen Einstellungen ist jeweils deutlich größer geworden. Die politische Selbstverortung von Befragten hat rechts der Mitte mit 15,5 % ebenfalls von zuvor knapp 10 % deutlich zugenommen.
Ein Teil der Mitte distanziert sich von der Demokratie, ein Teil radikalisiert sich. Das Vertrauen in die Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie sinkt auf unter 60 %. Ein erheblicher Teil der Befragten vertritt verschwörungsgläubige (38 %), populistische (33 %) und völkisch-autoritär-rebellische (29 %) Positionen. Im Vergleich zur Befragung während der Coronapandemie 2020/21 ist dies ein Anstieg um rund ein Drittel und auch zum Jahr 2018/19 ist der Anteil potenziell demokratiegefährdender Positionen gestiegen. So denken beispielsweise inzwischen 32 %, die Medien und die Politik würden unter einer Decke stecken. Zudem stimmen in der aktuellen Mitte-Studie mit 30 % fast doppelt so viele Befragte wie noch vor zwei Jahren der Aussage zu: »Die regierenden Parteien betrügen das Volk.« und ein Fünftel meint: »Unser Land gleicht inzwischen mehr einer Diktatur als einer Demokratie.«
Die Billigung und Rechtfertigung politischer Gewalt haben auch deutlich zugenommen. 13 % sind der Auffassung, einige Politiker/innen hätten es verdient, wenn »die Wut gegen sie« in Gewalt umschlägt Menschenfeindliche Einstellungen sind wieder auf hohem Niveau.
34 % der Befragten meinen, Geflüchtete kämen nur nach Deutschland, um das Sozialsystem auszunutzen. 16,5 % unterstellen jüdischen Menschen, heute ihren Vorteil aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen zu wollen. Weitere 19 % schließen sich diesem Vorwurf teilweise an – diese ambivalenten und uneindeutigen Haltungen gegenüber antisemitischen Positionen wie auch anderen Formen von Abwertungen und Vorurteilen nehmen zu. 17 % machen die Identität von Trans*Menschen verächtlich und rund 11 % fordern, Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle als Ehefrau und Mutter besinnen. Auch Klassismus als die Abwertung aufgrund des sozialen
Status von Menschen ist weit verbreitet. Etwas mehr als ein Drittel teilt etwa die Auffassung, Langzeitarbeitslose würden sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen (35 %). Insgesamt übersteigt die Tendenz zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der aktuellen Mitte-Studie sogar das hohe Vor-Corona-Niveau von 2018/19. Jeder zehnte Befragte ist dabei grundsätzlich verschiedenen Minderheiten in der Gesellschaft gegenüber feindselig und diskriminierend eingestellt. Eine nationale Orientierung zur Krisenbewältigung geht mit demokratiegefährdenden Einstellungen einher. Angesichts der vielen jüngeren Krisen wie der Pandemie, dem Ukrainekrieg, der Inflation, dem Klimawandel und anderen ungelösten Problemen äußern rund 42 % der Befragten Unsicherheit. Doch zur Frage, wie die Gesellschaft den Mehrfachkrisen begegnen soll, ist die Bevölkerung zwiegespalten: 53 % befürworten eine Rückbesinnung auf das Nationale, fordern eine Schließung nach außen und erachten vermeintlich deutsche Werte, Tugenden und Pflichten als wesentlich für den Umgang mit den Krisen. Dies geht mit einer höheren Zustimmung zu demokratiegefährdenden Einstellungen einher. Demgegenüber stehen rund drei Viertel der Befragten zu einer offenen Gesellschaft und sagen, es komme jetzt vor allem auf Zusammenhalt (79 %), Solidarität mit den Schwächsten (68,5 %) und auch darauf an, auf die Wissenschaft und Expert:innen zu hören (62 %). Diese Befragten haben wiederum deutlich seltener demokratiegefährdende und häufiger demokratiewahrende Einstellungen.
Wer oder was ist „die Mitte“?
Die Mitte einer Gesellschaft kann unterschiedlich bestimmt werden. In den Mitte-Studien werden alle Teile der Bevölkerung, die eine vermittelnde und stabilisierende Kraft in der Demokratie sein können, als Mitte befragt. Mit dem Namen »Mitte-Studie« soll der Fokus der Beobachtung und Analyse entsprechend auf die breite Bevölkerung gesetzt werden. In den Mitte-Studien werden alle Teile der Bevölkerung, die eine vermittelnde und stabilisierende Kraft in der Demokratie sein können, als Mitte befragt. Mit dem Namen »Mitte-Studie« soll der Fokus der Beobachtung und Analyse entsprechend auf die breite Bevölkerung gesetzt werden. Dabei sieht sich die Mehrheit der Menschen in Deutschland auch selbst als Teil der Mitte. Ziel der Studie ist es zu erkunden, wie es um demokratische und demokratiegefährdende Einstellungen in der Gesellschaft bestellt ist, insbesondere jenseits rechtsextremer Gruppierungen und Strukturen. Dabei gilt die Mitte gemeinhin als Garant für Demokratie, Vernunft und Ordnung. Entsprechend umworben und umkämpft ist die Mitte politisch und ideologisch. Die Mitte ist damit mehr als eine sozioökonomisch definierte Größe und geht auch über Wahlentscheidungen oder politische Selbstverortungen hinaus. Die Reihe der Mitte- Studien greift diesen vagen und zugleich aufgeladenen Mitte-Begriff bewusst auf und will eine empirische Grundlage für die kritische Beobachtung gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen geben.
Die Mehrheit der Bevölkerung sieht den Klimawandel als große Bedrohung und hat eine klimapolitisch progressive Haltung.
Knapp ein Drittel zeigt Verständnis für die Proteste und Blockaden von Klimaaktivist/innen und weitere 23 % finden diese zumindest teilweise nachvollziehbar. Sorgen vor den Folgen des Krieges in der Ukraine wie etwa steigende Energiepreise dämpfen jedoch die Zustimmung zur Energiewende und zum Klimaschutz. Mit 26,5 % aller Befragten meint sogar rund jeder Vierte: „Wir sollten uns mit Russland einigen und wieder mehr Gas und Öl von dort beziehen.“ Wer darüber hinaus zum Krieg die Position vertritt, Russland wehre sich gegen eine »Bedrohung durch den Westen« (22,5 %), argumentiert auch sonst eher gegen die Energiewende und den Klimaschutz. Dieser Teil der Bevölkerung neigt wiederum deutlich häufiger zu Demokratiemisstrauen, Populismus und rechtsextremen Einstellungen. Umgekehrt gilt: Wer Vertrauen in die Demokratie hat, und Populismus zurückweist, ist klimapolitisch progressiver eingestellt. 65 % der Befragten halten jedoch mehr Bürger/innenbeteiligung bei der Energiewende für nötig. Daran kann demokratische Kultur anknüpfen.
Einsamkeit und soziale Ungleichheit schwächen die gesellschaftliche Teilhabe und Demokratie.
13 % der Befragten berichten öfter oder häufig Einsamkeit zu erleben. Zugleich fühlen sie sich zuhause (28 %), auf der Arbeit (36 %), aber besonders auch im öffentlichen Raum (46 %) vermehrt unwohl. Wer denkt, ausgeschlossen und isoliert zu sein und das Gefühl hat, dass einem Gesellschaft fehlt, ist weniger krisenresilient, beteiligt sich politisch weniger und neigt eher zuenschenfeindlichen wie auch antidemokratischen Einstellungen als Personen, die seltener Einsamkeit erleben. Dabei wirkt sich der sozioökonomische Status ebenso auf das Erleben und Denken der Menschen zur Politik und Gesellschaft aus. Befragte mit weniger Einkommen, niedrigerem Schulabschluss sowie jene, die angeben, eher »unten« in der Gesellschaft zu stehen, äußern häufiger Vorurteile gegenüber als »fremd« markierten Gruppen. Doch gerade auch Befragte der sozioökonomischen Mitte gehen zunehmend auf gefährliche Distanz zu demokratischen Normen und Werten der Gleichwertigkeit aller Menschen.
Wie werden die Daten erhoben und ausgewertet?
Die Mitte-Studie verbindet die Langzeitstudie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, die seit dem Jahr 2002 – also seit über 20 Jahren – Vorurteile, Diskriminierungen und Abwertungen von Gruppen untersucht, mit der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die seit dem Jahr 2006 im 2-Jahres-Rhythmus vor allem rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft untersucht.
Sie ist als repräsentative Bevölkerungsumfrage angelegt und folgt bewährten Methoden der empirischen Sozial- und Einstellungsforschung. Seit 2014 wird die Studie maßgeblich am IKG betreut und als telefonische Befragung durchgeführt (CATI-Methode). Dabei werden den Befragten über einen standardisierten und vorab getesteten Fragenbogen Aussagen vorgelesen, zu denen jeweils Antwortalternativen zur Verfügung stehen. In der Regel wird der Grad der Ablehnung bzw. Zustimmung zu den Aussagen über eine 5-stufige Antwortskala ermittelt. Die zentralen Konstrukte der Untersuchung werden über mehrere Aussagen erhoben und anschließend zu reliablen und validen Mittelwert- oder Summenskalen zusammengefasst. Die Messqualität wird unter Anwendung gängiger statistischer Verfahren geprüft. Um Abweichungen der Stichprobendaten von den Populationsdaten der deutschen Wohnbevölkerung zu korrigieren, erfolgen die empirischen Analysen über die Gewichtung der Stichprobe, unter anderem nach den Merkmalen Alter und Bildung.
Es muss jedoch insofern eine gewisse Verzerrung der Stichprobe angenommen werden, als dass Personen mit bewusst rechtsextremer Auffassung und auch solche, die der Wissenschaft gegenüber feindselig eingestellt sind, ebenso wie Personen, die nicht fließend deutsch sprechen, überzufällig häufig nicht an der Befragung teilnehmen. Zudem kann es sein, dass Befragte zu gesellschaftlich kritischen und sensitiven Themen wie in der Mitte-Studie weniger so antworten, wie sie womöglich tatsächlich denken. Dabei können wir nur messen und berichten, worüber die Befragten bereit sind, Auskunft zu geben. Mit den genannten Einschränkungen gehen wir tendenziell davon aus, das Niveau und Potenzial menschenfeindlicher und rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung eher zu unterschätzen als zu überschätzen. (Quelle:IKG)