Leben mit geringer Literalität
Der Anteil Erwachsener in Deutschland, die nicht richtig lesen und schreiben können, hat sich in den vergangenen acht Jahren um fast ein Fünftel verringert. Das zeigt die neue Grundbildungsstudie „LEO 2018 - Leben mit geringer Literalität“, die die Universität Hamburg auf der Jahreskonferenz der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung 2016-2026 (AlphaDekade) in Berlin veröffentlicht hat. Danach gibt es in Deutschland noch rund 6,2 Millionen Erwachsene, deren Lese- und Schreibkompetenzen für eine volle berufliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe nicht ausreichen. 2011 waren es noch 7,5 Millionen, also etwa 1,3 Millionen mehr.Auch bei der Gruppe Erwachsener, die nicht mehr als funktionale Analphabeten gelten, sondern zusammenhängende Texte verstehen, aber dennoch nicht gut lesen und nur sehr fehlerhaft schreiben können, gab es einen beachtlichen Fortschritt. Hier verringerte sich die Anzahl von vormals 13,4 Millionen auf nun 10,6 Millionen Menschen. Die Enttabuisierung des Themas sowie die Bereitstellung von geeigneten und attraktiven Selbstlernangeboten haben zu dieser positiven Entwicklung beigetragen.
Die Gutenachtgeschichte für die Kinder, die Speisekarte im Restaurant, der Brief von der Bank oder der Beipackzettel eines Medikaments – alltägliche Dinge wie diese sind für mehr als sieben Millionen Deutsche eine große Hürde. Denn sie können nicht richtig lesen und schreiben.
Diese Menschen in Deutschland sind sogenannte funktionale Analphabeten. Sie können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende, auch kürzere Texte wie zum Beispiel eine schriftliche Arbeitsanweisung verstehen.. „Die Ergebnisse der neuen LEO-Studie zeigen, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, um das Grundbildungsniveau von Erwachsenen in Deutschland zu erhöhen. Damit wird mehr Menschen eine bessere Teilhabe am öffentlichen und beruflichen Leben ermöglicht“, erklärte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek anlässlich der Veröffentlichung der Studie. „Durch unsere verstärkte Öffentlichkeitsarbeit hat sich auch das Verständnis für die Betroffenen erhöht, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Das ist ein wichtiger Schritt, diesen Menschen zu helfen. Wir sensibilisieren im Rahmen der AlphaDekade insbesondere Unternehmen dafür, geringqualifizierten Beschäftigten arbeitsplatzorientierte Lernangebote anzubieten – und das mit wachsendem Erfolg. Auch für schon länger in Deutschland lebende Migrantinnen und Migranten werden die Lernangebote kontinuierlich weiterentwickelt. Sie bilden zwar nicht die Mehrzahl der gering literalisierten Erwachsenen, sind aber durch ihren Bevölkerungsanteil stärker vertreten.“
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert die AlphaDekade mit insgesamt rund 180 Millionen Euro. In den vergangenen Jahren haben die Länder vielfältige Initiativen ergriffen: So haben sie Netzwerke mit vielfältigen Partnern ausgebaut, neue Kurse und Grundbildungszentren eingerichtet und das Problem gegenüber der Öffentlichkeit besonders bewusstgemacht. „Die Einrichtung der Nationalen Dekade 2016 hat die gemeinsamen Anstrengungen von Bund und Ländern deutlich vorangebracht. Das sehen wir auch an der neuen Studie der Universität Hamburg“, erklärt der Präsident der Kultusministerkonferenz, Prof. Dr. Alexander Lorz, auf der Jahreskonferenz der AlphaDekade in Berlin. „Diesen Kurs wollen und müssen wir beibehalten, um Erwachsene mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft zu unterstützen. Die Studie macht auch deutlich, dass wir das Lesen und Schreiben und die Grundbildung fördern müssen, um den Betroffenen auch einen Zugang zu den Möglichkeiten der Digitalisierung zu ermöglichen.“
Die neue LEO-Studie gibt auch Aufschluss darüber, wie Lernangebote gestaltet und auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten werden können. So wird Lesen und Schreiben beispielweise anhand von praktischen Situationen aus dem Alltag wie dem Ausfüllen von Formularen beim Arzt oder bei der Krankenversicherung geübt. Das verleiht zugleich mehr Sicherheit in Gesundheitsfragen. Auch liefert die LEO-Studie wertvolle Informationen darüber, wie die Menschen angesprochen und an welchen Orten sie angetroffen werden können. Facebook und Instagram werden von ihnen im Alltag überdurchschnittlich und regelmäßig genutzt. Solche Medien können daher auch genutzt werden, um der Zielgruppe Lernmöglichkeiten zu eröffnen.
„Gering literalisierte Erwachsene sind mehrheitlich erwerbstätig und haben Familie. Meist sind sie jedoch Geringverdiener. Jeder zweite ist finanziell nicht in der Lage, eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu machen“, schildert die verantwortliche Wissenschaftlerin der Universität Hamburg, Prof. Dr. Anke Grotlüschen, die Ergebnisse der Studie. „Den Telefon- oder Stromanbieter zu wechseln, trauen sich nur 50 Prozent der gering literalisierten Erwachsenen zu. Zwei Drittel haben große Schwierigkeiten, politische Fragen zu verstehen und einzuschätzen. Die neue LEO-Studie zeigt, dass das Leben mit geringer Literalität mit Ausgrenzungen und großen Unsicherheiten im Alltag verbunden ist. An dieser Stelle müssen Bildungsangebote ansetzen.“